02.11.2016

Die unscheinbare Tür



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Achtlos ging ich an diesem Morgen an einer unscheinbaren Tür vorbei, mit einem oberflächlichen Blick streifte ich den altmodischen Schlüssel,
der am Türpfosten, an einem krummen Nagel hing. Ich hatte es eilig, in Gedanken konzentriert auf den bevorstehenden Alltag mit seinen unliebsamen Pflichten... Wie gern wäre ich noch länger in meiner Traumwelt verweilt, die ich nur  im Schlaf, hinter meinen geschlossenen Augen sah; wo alle meine Wünsche in Erfüllung gegangen, wo alle meine Träume bereits Wirklichkeit geworden...

Gedankenverloren blieb ich an meinem Ziel, an der Bushaltestelle stehen und wartete auf den Bus, der mich noch tiefer in die graue Realität hineinbefördern würde, die keinen Platz für meine Träume hatte. Noch immer sah ich den altmodischen Schlüssel vor meinen geistigen Augen, das Bild der unscheinbaren Tür wollte sich nicht auflösen; es wurde immer schärfer und klarer. Wie ein imaginärer Fingerzeig blitzte es immer wieder auf, als wollte es mir sagen, ich hätte etwas Wichtiges gerade eben verpasst, eine Chance ungenützt verstreichen lassen, weil ich vor der besagten Tür nicht stehen blieb.

Aber was hätte mich denn schon hinter dieser Tür erwartet, wenn ich sie mit dem Schlüssel aufgesperrt hätte; war es womöglich die magische Tür zu dem Raum, hinter meine erfüllten Träume auf mich warteten, damit ich sie endlich in den Händen halten kann, damit ich hinter dieser Tür meine neue Realität voller Wunder ehrfürchtig betrachten konnte...?
Was mochte wohl hinter dieser unscheinbaren Tür verborgen sein, fragte ich mich aufs Neue, als ich herannahenden Bus in der Kurve erblickte. Sollte ich schnell zurücklaufen, die Tür öffnen, sollte ich an Wunder noch glauben...? Oder sollte ich die Fragen beiseite schieben, in den Bus einsteigen, dem Ruf der Pflichten folgen, alles beim Alten lassen, jeden Tag von vorne beginnen, immerdar das gleiche Grau der Tage vor Augen...?

Ich wusste es nicht. Was ich aber wusste war, nämlich sofort einen Entschluss fassen zu müssen, ehe der Bus die Haltestelle erreichte. Während ich noch fieberhaft über die Soll-Frage nachdachte, hielt der Bus vor mir an und ihre geöffneten Türen forderten mich auf, nicht länger zu zögern, sondern augenblicklich einzusteigen, wenn ich zu meinen Pflichten pünktlich erscheinen wollte. Wie gelähmt starrte ich die Türen an, unfähig, einen Schritt in den Bus zu setzen. Dann spürte ich plötzlich einen Stoß in den Rücken; ein angelaufener Passant, der es eilig hatte, den Bus zu erwischen, rempelte mich an und riss mich in seinem Elan mit, in dem Glauben, ich wollte ohnehin in den Bus steigen, in dem Glauben, mir einen Gefallen zu tun, indem er mich kräftig, mit einer schiebenden Armbewegung durch die noch offene Tür des Busses stieß.

Sogleich gingen die Türen zu, ich hatte keine Möglichkeit mehr wieder auszusteigen, auch diese überraschende Wendung raubte mir die Geistesgegenwart zu handeln. Der Bus fuhr los, im letzten Augenblick bekam ich eine von oben herabhängende Schlaufe zu fassen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Ich weiß noch, dass ich dachte, nämlich dass das Bild mit der besagten Türe und dem altmodischen Schlüssel in meinem Geiste jetzt bestimmt sofort wieder auftauchen würde, blitzartig, sich wiederholend. Aber es kam nicht; das Bild, das ich an der Haltestelle noch so scharf, in allen Details sehen konnte, verschwand, wie ausgelöscht. Den ganzen langen Tag und auch am Abend nicht; das Bild hat sich in Nichts aufgelöst. Irgendwann kamen mir auch einige Zweifel, ob ich mir das ganze nicht nur eingebildet hatte, so widerstrebend wie ich in den Morgenstunden meinem grauen Alltag entgegen eilte, mit einem Fuß noch in meiner wohl bekannten, schönen Traumwelt stehend.

Doch es war nicht so einfach, die ganze Sache zu vergessen, noch dazu wollte ich genau wissen, ob mir nur meine Fantasie einen Streich gespielt hatte; so nahm ich mir vor, am nächsten Morgen zu überprüfen, ob ich die unscheinbare Tür auf meinem Weg zur Bushaltestelle wirklich gesehen hatte. Auch beschloss ich mutig, diesmal den altmodischen Schlüssel zu benutzen; was konnte schon passieren...? Ich musste einfach Gewissheit erlangen, um diese Angelegenheit abschließen zu können.

Nächsten Morgen brach ich wieder auf, schlug den gewohnten Weg zur Bushaltestelle ein, zählte die Häuser  bis zu der vermeintlichen Tür mit dem Schlüssel. Und tatsächlich: die unscheinbare Tür war da, sie war echt, ich hatte also nicht fantasiert, sie war real. Nur etwas Wesentliches fehlte ganz, nämlich der altmodische Schlüssel, der letzten Morgen noch an dem Türpfosten, an einem krummen Nagel hing. Doch heute war nicht nur der Schlüssel nicht mehr vorhanden, auch der krumme Nagel fehlte und nach genauere Überprüfung des Türrahmens war auch kein Loch zu finden, wo der Nagel gestern noch hätte drinstecken können, bevor er vielleicht samt Schlüssel, warum auch immer, entfernt wurde.

Erstaunt, verwundert oder eher verdattert stand ich vor der unscheinbaren Türe, die ich zu öffnen versuchte, doch sie blieb verschlossen, sie verwehrte mir jeglichen Zugang über die Schwelle. Ein Gedanke schrie in mir laut auf: Du hast deine Chance gestern verpasst! Es ist deine Schuld, deine Schuld ganz allein!
Wieder einmal stand ich wie gelähmt, diesmal vor der besagten Tür, hinter der vielleicht meine Träume, meine Wünsche verborgen lagen, bereits in Erfüllung gegangen, zum Greifen nah... Ich hätte sie vielleicht in meinen Händen halten, ihre zur Wirklichkeit gewordenen Existenz spüren, vor Freude und Glück weinen können, meine Seele lachen hören, endlich in meiner realisierten Traumwelt leben, all ihre Wunder wirklich erleben, auskosten können...

Es war zu spät; der Schlüssel war spurlos verschwunden. Doch eines weiß ich heute noch mit Sicherheit: Mein Zögern an diesem Morgen von einst werde ich mir selbst niemals verzeihen; diese vertane Chance wird mich mein Leben lang begleiten, nämlich, was wäre gewesen wenn... ?

© Nachtpoetin

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